Der Bundestrainer vor der EM 2016: Weltmeister Joachim Löw, der Genussraucher und Ästhet, will den nächsten Titel

Ein paar Tage vor der EM 2016 in Frankreich:

 „Ich bin ein ästhetischer Trainer, der guten Fußball sehen will“

 Auf der Höhe ihres Karrieregipfels, nach dem Weltmeistertitel in Brasilien, traten Spielführer Philipp Lahm, Per Mertesacker und Miroslav Klose zurück – und wäre Klose als WM-Rekord-Torschütze nicht zurückgetreten, wer weiß, vielleicht hätte ihn Löw bis dato immer wieder eingeladen und auch für diese Europameisterschaft berufen, allein aus Dankbarkeit. Wie zum Beispiel im Falle Lukas Podolski. „Miro&Poldi“, Nominierungspraxis mit Urvertrauen, titelte Journalist Christoph Bausenwein in seiner viel beachteten Biografie über den Bundestrainer. Viele Experten und Beobachter vermuteten, dass auch der Bundestrainer am Ziel aller Träume das Zepter übergeben würde. Nichts da, Joachim Löw ist als Weltmeister noch hungrig genug, nach dem nächsten Titel zu greifen.

 Daran sind schon andere gescheitert, den Stabswechsel nicht rechtzeitig vollzogen zu haben. Wie heißt ein Sprichwort?, vom Stall zu den Sternen, und zurück. Der Weltmeistertitel war schließlich die Krönung eines Projektes, das einst 2006 in Deutschland als „Sommermärchen“ startete, angeschoben mit Elan und Euphorie durch Jürgen Klinsmann (mit Joachim Löw an seiner Seite), dann über zwei dritte Plätze und einem Vize-Europameisterschaftstitel bis hin zum 7:1 über Brasilien mündete – was ja eigentlich schon den WM-Titel bedeutete. Bereits vor dem Erfolg von Brasilien waren sich alle einig, dass Joachim Löw, der bodenständige Badener und bekennende Schwarzwälder, die Spielweise der einst nur kämpfenden Deutschen, stark verändert habe in all den Jahren. Vom neuen Fußballdeutschland ist die Rede, technisch versiert und mit traumhaften Spielzügen zum Tor.

 

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Ein paar Modifikationen musste selbstverständlich auch Löw vornehmen, dass es mit dem WM-Titel klappte, nur schön spielen und verlieren, wollte die DFB-Elf sich selber, aber auch keinem Fan mehr zumuten. Also wurde das Defensivverhalten gestärkt, und die Fitness und Kondition sowieso. Daten und Fakten lügen nicht, so wurden schon ein paar Spieler „überführt“ und aussortiert (Kevin Kuranyi als Beispiel, bevor der Stürmer dann selbst das Team verließ, und Löw konsequent blieb, die Tür nimmer aufzumachen), weil die Fitness-Hausaufgaben nicht gemacht wurden.

Löws Bilanz, fasst Autor Bausenwein in der gelungenen (und von Löw nicht autorisierten) Biografie zusammen, sei recht überschaubar gewesen: 52 Bundesligaspiele (als Spieler), sieben Tore, 252 Einsätze und 81 Tore in der 2. Liga für den SC Freiburg. Immerhin firmiert er bis heute als Rekordtorschütze der Breisgauer. Als junger Trainer des VfB Stuttgart holte Löw den DFB-Pokal gegen Energie Cottbus (2:0) und stand im Europapokal der Pokalsieger gegen Chelsea im Finale, das allerdings knapp verloren ging. Es folgten Stationen und Titel in Österreich (beim FC Tirol), sowie Aufenthalte in der Türkei.

In Freiburg fühlt sich der Bundestrainer übrigens auch heute noch wohl, hier kann er ungestört Cafés und Lokale aufsuchen, die Leute lassen ihn in Ruhe – ganz dem Motto: Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.

Wie schon gesagt, das Projekt bis zum WM-Titel nahm seinen Anfang mit einem Treffen Klinsmanns und Löws in Como, kurzfristig und fernab neugieriger Journalisten, überzeugte Jürgen Klinsmann Jogi Löw von einem Engagement an seiner Seite. Beide kannten sich von einem „verkürzten“ Fußballlehrerlehrgang für verdiente Profis, die ersten Trainerlizenzen hatte Löw in der Schweiz absolviert, wo er unter anderem als Spielertrainer des Drittligavereins FC Frauenfeld fungierte. Löw sei schon immer eine Art „spielender Trainer“ gewesen, erinnern sich Wegbegleiter, unter anderem auch Rolf Fringer, der Löw selbst trainierte. Später assistierte Löw Fringer beim VfB, und beerbte ihn anschließend. Überhaupt, in der Schweiz sei bereits früher taktisch variabler gespielt worden, und das prägte Löw. Klinsmann hatte ihn nicht vergessen. Löw, so betonte Klinsmann offiziell, „sei alles andere als nur ein Hütchenaufsteller“, Löw sei viel mehr ein Assistent auf Augenhöhe. Löw sei voll verantwortlich für Trainingslehre und – ausführung. Das sollte sich bis zum Weltmeistertitel auch bewahrheiten, dass Löws Handschrift bereits von Beginn an erkennbar war. Klinsmann sei vielmehr der „Motivator und das Gesicht“ nach Außen, voller Euphorie und Enthusiasmus – vom taktischen Verständnis her, so in etwa schrieb selbst Lahm später in seiner Autobiografie „Der feine Unterschied“, wäre Klinsmann weniger auf der Höhe, „Jürgen Klinsmann habe sich mit Taktik so wenig beschäftigt“, dass sich das Team selbst hätte zusammen tun müssen. Heftig, aber klar war, Löw sei stets der „Taktikflüsterer“ und Bundestrainer 1b gewesen.

Der Rest ist Geschichte, aber wir wollen hier ein paar interessante Details aus dem Buch von Christoph Bausenwein, „Joachim Löw – Ästhet, Stratege, Weltmeister“ (Verlag die Werkstatt), herauspicken, die vielleicht doch einiges erklären, zu Jogi Löw, aber auch über den deutschen Fußball momentan.

Löw und Klinsmann waren sich einig: Deutschland brauche ein neues Image, und das gehe auch nur über eine neue positive Wahrnehmung durch eine neue Spielweise. Andere Länder hatten sich schließlich weiter entwickelt.

Löw musste sofort die „Taktikgrundschule“ für die Nationalspieler implementieren. So genannte Crashkurse in Taktikvermittlung fanden statt. Hier sei auch anzumerken, dass Klinsmann wie Löw auch von der baden-württembergischen „Taktikschule“ eines Ralf Rangnicks wie Helmut Groß (beide anfangs in der VfB-Jugendabteilung) inspiriert wurden. Groß und Rangnick wiederum, befeuert von Erkenntnissen der Happels, Lorants und Sacchis, waren überzeugt, dass man durch Raumdeckung „ökonomischer agieren“ könne. Einig waren sich Klinsmann und Löw, sowie Teammanager Oliver Bierhoff auch, dass man für das „neue Fußballdeutschland“ auch neue, junge und körperlich sowie geistig frische Spieler benötige. Die Arbeit im körperlichen Bereich, das verstärkte Taktiktraining, „für viele Spieler sei das ja absolutes Neuland gewesen“, erinnert sich Löw Jahre später.

Auch das Team um das Team wuchs, Athletiktrainer aus den USA, das Scouting mit Urs Siegenthaler, ergänzten den DFB-Mannschaftstross. Immer und immer wieder übte Löw mit den Nationalspielern die Viererkette, auch in Trockenübungen ein. Anfangs präferierte Löw das 4-4-2-System. Erst mit einem Sechser, wie ein Libero vor der Abwehr, dann auch mit zwei Sechsern, die den Radius der gegnerischen Mittelfeldspieler einengen sollten. Dafür sollten sich auch die Außenverteidiger über die Flügel in den Angriff mit einschalten. „Ausdauer, Schnelligkeit und Kraft“ hießen die Stichworte. Reaktionsschnelligkeit war gefragt, um selbst Lösungen in verzwickten Lagen zu finden. Alles wurde wissenschaftlich analysiert. Ziel war bis 2014 immer, „Dem Gegner keine Atempause lassen, schnell spielen nach der Balleroberung“, und die Befehle waren immer: „Tempo, Tempo, und nochmals Tempo“, so Löw, wie in der Englischen Premiere League. Damals nannte Löw gar Mourinhos Fußball beim FC Chelsea als Vorbild.

Wie ABC-Schülern bringt Löw den Nationalspielern die Viererkette bei (was also heißt, dass diese in den Clubs nicht überall richtig praktiziert wurde). Joachim Löw nennt unter anderem die vier Vorteile der „Viererkette“, wenn sie denn verstanden wird: Orientierung am Mitspieler im Raum, deshalb weiß jeder Abwehrspieler immer, wo er verteidigen muss. Weil sie auf Manndeckung verzichten, und die Laufarbeit rochierender Gegenspieler nicht mitmachen, sparen sie Kraft. Außerdem werden durch das kollektive Verschieben Passwege zugestellt. Und, es werden eigene Räume kreiert, und dadurch Mitspieler frei.

Natürlich bezog sich Joachim Löw in seinen Analysen immer wieder auf den spanischen Fußball, bei dem jeder einzelne Spieler etwas mit dem Ball anfangen könne. Klinsmann war weg, Löw der erste Mann, und dessen Assistent wurde Hansi Flick. Zwar auch einst Profi bei den Bayern, aber eher ein unscheinbarer und fleißiger „Wasserträger“, dafür später als (Junioren-)Trainer umso gewiefter und erfolgsorientiert im „Pressingfußball“ versiert. Bei der TSG 1899 Hoffenheim, weit vor Ralf Rangnick, war Flick zwar nur unterklassig als Trainer aktiv, aber seine Handschrift war klar erkennbar.

Flick ließ die Viererkette nach Louis Van Gaal einüben. Diesen Van Gaal eben studierte Hansi Flick bereits zu Ajax-Zeiten. Löw wie Flick zeig(t)en sich über die Jahre auch immer lernbereit und innovativ, eigene Ideen und Spielsysteme anderer Trainer zu kombinieren. Die Nationalspieler, besonders die der Bayern, brachten immer Anregungen mit, und deren Spiel wurde ja Woche für Woche analysiert. Man lernte erst von Van Gaal, der „in München auf ein 4-3-3 bezeichnetes 4-5-1 umgestellt hatte.“

Danach profitierte das DFB-Team bis zum WM-Titel auch von der Arbeit Pep Guardiolas bei Bayern München. Sprich, die Spieler setzten Guardiolas Ideen auf dem Platz auch mit der Nationalelf um. Löws Motto ist sowieso, wer den Job als Trainer ernst nimmt, darf mit dem Lernen nie aufhören.

Die bitteren Niederlagen gegen Italien, jeweils im Halbfinale der WM 2006 und bei der EM 2012 in Polen, sowie gegen die Spanier, ebenfalls zweimal, wurden tief analysiert, und man zog Lerneffekte daraus.

So wurde das eigene Spiel immer verbessert, eben so gut es ging. Erkenntnisse blieben nicht aus, und werden in der Biografie auch gut beschrieben: „Die meisten Tore fallen heutzutage nicht nach Standardsituationen, sondern nach Ballgewinn in den fünf, sechs, Sekunden, wenn der Gegner nicht organisiert ist“, weiß der Bundestrainer. Aber, wie neulich gesehen im Testspiel gegen die Slowakei, andere Nationen schlafen auch nicht, und deren Nationalspieler werden in internationalen Spitzenteams ebenfalls sehr gut geschult.

Ein anderer Faktor ist natürlich der Teamspirit und die Psychologie. Löw hat auf dem Weg zum WM-Titel 2014 ein paar Krisen beheben müssen (Ballack gegen Lahm, Löw und den Rest; Das Trainerteam bei den Vertragsverhandlungen mit dem DFB; der tragische Tod Enkes), nicht immer wirkte Joachim Löw souverän, aber letztendlich ging alles gut, wer fragt oder erinnert sich schon nach dem Mega-Erfolg daran? Und Löw selbst machte auch Zugeständnisse und konnte sehr wohl Fehler in der „Außendarstellung“ zugeben. Seiner Popularität schadete es nie, im Gegenteil.

Jedenfalls sah sich Joachim Löw genötigt, nachdem der Zwist zwischen Michael Ballack und ihm als Trainer, sowie anderen Spielern medial etwas eskalierte, einen Verhaltenskodex für die Nationalelf zu erstellen (der zackig rüberkam):

„Erste Regel, der Trainer muss absolut als der alleinige Chef anerkannt werden“, mit Zusatzerklärung, dass nur dieser personelle und taktische Entscheidungen trifft. Außerdem Regel Nummer zwei, es gelte das absolute Leistungsprinzip! Es werde beobachtet, und nur nach Leistung entschieden, „wer spielt“. Keine Kritik in der Öffentlichkeit, war schließlich die dritte Regel. Diese sei auch als Frage des Respekts zu verstehen, so Löw weiter. Diese scharfe Ansprache hatte den Charakter einer letzten Warnung (in Richtung Ballack und Frings damals, aber auch an andere). Für alle interessierten Trainer werden im gelungenen Buch über Löw (das 410 Seiten hat) auch Fußballgrundlagen genannt. Eine davon heißt: „Fußball ist wie Autofahren“, soll heißen, die Arbeit an den Automatismen endet nie. Etliche Wiederholungen und „das Feilen an kleinen Dingen“, seien der Schlüssel für den Erfolg (gewesen).

Dass der (Privat-)Mensch Joachim Löw im Buch auch beleuchtet wird, macht die Biografie natürlich noch interessanter, denn viele fragen sich noch heute, wer ist eigentlich dieser, ja, unser Bundestrainer Joachim Löw?, so viel weiß man auch nicht über ihn – und das ist ganz bewusst so gesteuert. Immerhin, Löw ist ein ganz neuer Trainertypus, der das Leben und den Fußball genießen kann. Teilweise ein ganz normaler Mann, mit ähnlichen Lastern wie viele andere Bürger und Hobbyfußballer auch.

Über seine Frisur und sein Outfit äußern sich auch die Frauen, Löw ist eine Stilikone der Mitfünfziger geworden. Seine Laster? Nun, die eine oder andere Zigarette genehmigt sich Jogi Löw gern. Aufhören wollte er schon öfter damit, bisher vergebens.

Nun wird man sehen, wie es bei der Europameisterschaft läuft, ob Löw am Ende eher die Genusszigarette danach raucht, oder gleich mehrere aus Frust pafft.

Giovanni Deriu

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Giovanni Deriu

Jahrgang 1971, Vater, 2 Kinder, lebte lange Zeit in Asien; Dipl. Sozialpädagoge (FH) für Jugend- und Erwachsenenbildung, sowie Biographie-Arbeit. Außerdem: Industriekaufmann und gelernter Journalist. Schreibt regelmäßig für das RUND Magazin und FussballEuropa.com Fünf Jahre als Juniorentrainer tätig gewesen mit Jugendtrainer-Lizenz. In Hongkong die Junioren einer internationalen Soccer-Academy trainiert. Weiterhin als Scout (für Spiele und Spieler) unterwegs. Deriu analysiert für Spieler und Eltern die Spielerberater (und Agenturen), erstellt Profile und gibt Einschätzungen.

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