Nach intensiven 80 Unterrichtsstunden, organisiert vom italienischen Fußballverband (FIGC), ziehe ich Bilanz: Die Online-Fortbildung für Scouts und Beobachter, geleitet von Gianfranco G. Multineddu (u.a. Entdecker von Marco Verratti) und Roberto „Bobby“ Venturini, war weit mehr als eine reine Weiterbildung – sie war ein Blick hinter die Kulissen des modernen Scoutings, mit all seinen Chancen, Fallstricken und realen Geschichten. So sind viele Kursteilnehmer – Sportdirektoren, Trainer, Scouts und/oder Vermittler, wie wir – im oberen Amateur- oder semiprofessionellen und Profi-Bereich aktiv, oder gerade wie im Juniorenbereich ab der B- und A-Jugend (U17 bis U23 – von BundesligaTeams). Und es war bereichernd, die unterschiedlichen Herangehensweisen und Denkansätze zu erleben. Selbst das Thema Honorar und Vermittlungsvergütung wurde offen angesprochen – transparent, mit kleinen regionalen Unterschieden, aber ähnlich strukturiert.
Einzigartiges Format, starker Austausch
Als einziger deutsch-italienischer Teilnehmer aus Deutschland war ich Teil eines Kurses, der neben fachlichem Tiefgang auch echten Austausch zwischen Profis, Trainern und Sportdirektoren ermöglichte. Gastreferenten wie Riccardo Guffanti, Michele Fratini (PSG) und Cristiano Giaretta gewährten praktische Einblicke. In rund 45 Online-Unterrichtseinheiten (plus Praxis und Thesis) wurde ein breites Themenspektrum behandelt – von Spielanalyse über Technologieeinsatz bis zur Kommunikation zwischen Scouts und Trainern. Multineddu stellte auch die Thesen des Scouting-Experten des AC Milan, Thiago Estevao vor. Das Resultat: ein belastbares Netzwerk und viele neue Perspektiven.

Theorie trifft Praxis
Im Zentrum standen Thesenarbeiten zur Rolle des Scouts, Methodik, Technologieeinsatz und ländervergleichender Scoutingpraxis. Ergänzend praktische Fälle: Wie kann das Scouting die Entwicklung junger Spieler fördern? Wie läuft die Bewertung von Profis ab? Und: Warum ist Kommunikation mit Trainern und Vereinen essenziell?
Wissen trifft Erfahrung
Multineddu und Venturini boten nicht nur Theorie, sondern auch Anekdoten aus dem echten Fußballleben – von Provinzplätzen auf Sardinien bis hin zum Ligaverbleib eines fast abgestiegenen Teams. Es ging um Hierarchien in Kabinen, den Mut, Strukturen zu verändern, und die oft übersehene Einsamkeit in Führungsrollen.
Multineddu in der sardischen Provinz
Besonders bewegend waren die Erzählungen von Gianfranco Multineddu: Als Sportdirektor in der tiefen sardischen Provinz – umgeben von trockenen Trainingsplätzen, meckernden Ziegen, blökenden Schafen, gackernden Hühnern und neugierigen Eseln – stand er mit einem fast abgestiegenen Team vor dem Nichts. Aber auch in dieser Ursprünglichkeit, fernab von Hochglanzstadien, bewahrte er Haltung. Seine Frau gab ihm Mut: „Du hast schon ganz andere Dinge geschafft!“ Und tatsächlich – er führte das Team zum Klassenerhalt. Mit Mut, Analyse, Umsicht und dem festen Glauben daran, dass auch „aussortierte“ Spieler nochmal wertvoll werden können. Man müsse die richtigen Menschen erkennen – nicht nur den perfekten Spieler. Und, so ein Geheimtipp gegen Besserwisser im Hintergrund, „manchmal muss man sich eine harte Krokodilshaut zulegen…“, lächelt Multineddu vielsagend via Zoom.
Videoanalysen mit Tiefgang
Das Seminar war zudem topaktuell: Per Videoanalyse wurde u.a. das U19-Finale Spanien gegen Frankreich durchleuchtet – detailreich, mit Fokus auf taktische Entwicklungen, Raumaufteilung, Antizipation. Besonders intensiv war die Analyse von Son Heung-min, dem späteren Europa-League-Sieger. Noch vor dem Finale wurde er im Kurs besprochen – als Musterbeispiel für Vielseitigkeit: Kämpfer, Techniker, Antreiber, Balljäger, Vorlagengeber, Torjäger – und menschlich gefestigt. Ein echter Führungsspieler mit Spielintelligenz und mentaler Stärke. Auch hier zeigte sich: Talent ist mehrdimensional – das „Wie“ ist oft wichtiger als das „Was“.

Der Blick aufs Ganze
Guter Fußball beginnt nicht nur mit Talent, sondern mit Verstand, Analyse und Gefühl. Der „Osservatore“ verlässt sich nie allein auf Videosequenzen. Er beobachtet vor Ort, erkennt Körpersprache, Trainingsverhalten, Sozialverhalten. Der Spieler wird ganzheitlich erfasst – eingebettet in Stadt, Kultur und Umfeld. Wie lebt der Club? Wie reagiert die Stadt? Das sind Fragen, die zählen.
Technik und Menschlichkeit – kein Widerspruch
Die neuesten Plattformen und Tools – ja. Aber: Datenbanken ohne Menschenkenntnis sind leer. Es geht auch um Leadership, Agonismus, mentale Stärke. „Der Fußball ist unsere Leidenschaft“, so Multineddu, „aber der Mensch dahinter zählt mindestens genauso.“ Und immer wieder fiel der Begriff, l’anima, die Seele. Nur mit Seele im Club und in einer Mannschaft, erreiche man das Beste!
Fußball ist kein Algorithmus
Statt Schwarz-Weiß-Denken lernten wir differenzierte Sichtweisen: Ob Spielanalysen wie Spanien – Frankreich (U19) oder die taktische und spielerische Vielseitigkeit von Son Heung-min – nie ging es nur ums Faktische, sondern ums Verstehen, Einordnen, Entwickeln. So wurde Son Heung-min, weit vor dessen Europa-League-Finalsiegs mit Tottenham im Kurs besprochen. Aktualität und Kenntnisse internationaler Spieler, waren damit auch gegeben.
Erkenntnis: Der beste Scout irrt auch mal
Erfolg im Scouting? Meist unsichtbar, selten planbar. Viele beobachtete und gescoutete Talente schaffen es nicht in die Profiligen – vielleicht acht von 2000. Aber es bleibt: Leidenschaft, Integrität und der Wille, den Fußball besser zu machen.
Und zum Schluss…
Das erworbene FIGC-Diplom sehen wir eher symbolisch. Was zählt, ist das Wissen, das bleibt – und die Haltung: Im Sinne der Spieler, Talente und Trainer geben wir unser Bestes. Nicht stehen bleiben, nicht ins Blaue philosophieren – denn das wäre Rückschritt. Der Fußball rollt weiter. Und wir – Scouts, Beobachter, Vermittler, Trainer – wir tun alles, damit diese Leidenschaft weiterlebt. Deshalb an Gianfranco Multineddu, Roberto Venturini, den Referenten und Gästen, sowie allen Teilnehmern: Dankeschön für Inspiration, Einsichten und diesen ehrlichen Blick in das, was der Fußball wirklich ist – und was er sein kann.
GiD











